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Monika Gemmer

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Glauben Sie mir, wir waren arme Tiere, die ums liebe Leben kämpften ... und namentlich Wilhelm Grimm hat mir durch sein Missfallen jahrelang den bittersten Hohn und jede Art von Zurücksetzung bereitet, so dass ich mir tausendmal den Tod gewünscht habe.



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Ich war damals sehr jung, sehr trotzig und sehr unglücklich, und tat, was ich konnte, um mich durchzuschlagen.



Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848)



1844

Mit bitteren Worten erinnert sich die Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff im Alter von fast 47 Jahren an ihre Aufenthalte bei den Großeltern in Ostwestfalen ein gutes Vierteljahrhundert zuvor.

Kein Wunder: Der jungen Frau war dort, im Anwesen der Familie von Haxthausen, übel mitgespielt worden.











Romantiker und Raubtiere

Annette von Droste-Hülshoff im Paderborner Land

















Bökendorf

Zwischen Eggegebirge und Wesertal, etwa 40 Kilometer östlich von Paderborn in Ostwestfalen, liegt der kleine Ort Bökendorf.

Es ist die Heimat der Großeltern der Münsteraner Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.

Heute hat Bökendorf rund 750 Einwohnerinnen und Einwohner, eine Freilichtbühne und, am Ortsrand an einem Bach gelegen: Schloss Bökerhof.

Man mag es den gelb gestrichenen Fassaden des Anwesens, das eher einem Gutshof ähnelt als einem Schloss, nicht gleich ansehen: Doch der Bökerhof hat literaturhistorische Bedeutung.

Es ist das Elternhaus von Therese von Haxthausen, der Mutter der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.

Therese von Haxthausen

In diesem Haus, dem Stammsitz der einflussreichen Adelsfamilie von Haxthausen, wird Therese im Jahr 1772 geboren. Ihre eigene Mutter stirbt im selben Jahr, ihr Vater, Annettes späterer Großvater Werner Adolf von Haxthausen, heiratet erneut. Mit seiner zweiten Frau Anna Maria von Wendt-Papenhausen bekommt er eine ganze Schar von Kindern, so dass man bis heute von der „großen Generation“ der Haxthausens spricht.



Die Verwandtenbesuche hingen aneinander wie ein Kälbergekröse ...

Annette von Droste-Hülshoff



Neun Reisen unternimmt die Dichterin Annette von Droste in die Heimat ihrer Mutter, insgesamt drei Jahre ihres Lebens verbringt sie mit ihrer großelterlichen Familie im Paderborner Land. Im „gebirgigten Westphalen“ findet sie den Stoff für ihr berühmtestes Werk, die Novelle „Die Judenbuche“, die auf einem lokalen Kriminalfall beruht.

Und hier ist es auch, wo die junge Annette mit Anfang 20 eine Intrige erleben muss, die zum nachhaltigen Bruch mit der Verwandtschaft führt.













Der Romantikerkreis









Bökerhof heute, von der Gartenseite aus ...

... und wie Annette von Droste-Hülshoff es sah, von der dieses Aquarell stammt.





Es waren „fröhliche, freie Tage“ – doch nicht für alle

Die beiden Onkel der Dichterin, August und sein älterer Bruder Werner, scharen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen illustren Kreis junger, kulturbeflissener Menschen um sich: literarisch interessierte Studenten, Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler, die gerne im Sommer auf ein paar Tage oder auch Wochen in dem gastfreundlichen Haus logieren.

Zu dem Zirkel gehören auch die Brüder Grimm: Wilhelm und Ludwig Emil, der Maler, der sich in seinen Memoiren an „schöne, fröhliche, freie Tage“ in Ostwestfalen erinnert.



Wilhelm Grimm

Auch Jakob Grimm ist einmal zu Gast, ebenso der damals mittellose Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und, in späterer Zeit, die Dichterin Luise Hensel.

Annette trifft den Romantikerkreis im Bökerhof, zu dem auch ihre Tanten Anna, Ludowine und Ferdinandine von Haxthausen zählen, erstmals im Sommer 1813 in Bökendorf an.

Sie ist 16 Jahre alt.

Tagsüber lustwandelt man in Gruppen und Grüppchen in der Natur. Vorlesend oder Gedichte rezitierend durchschreitet man gemeinsam den Laubengang rund um den Bökerhof.

Ein Rest davon existiert noch heute.

Man vertreibt sich die Zeit mit Spielen wie „Kämmerchen vermieten“, spaziert plaudernd zum Lämmerkamp, durch den Wald zur Hinnenburg und ins Sengental, um dort zu musizieren und zu singen.

Zurück im Bökerhof, sitzt man des Abends zusammen im großen Saal, liest sich vor, erzählt sich Märchen und singt gemeinsam Volkslieder. Wilhelm Grimm schreibt fleißig mit.

Mit den 29 Märchen und Sagen, die die Haxthausener Onkel und Tanten sowie die Droste-Schwestern ihm liefern, werden er und Jakob den zweiten Band ihrer Sammlung von „Kinder- und Hausmärchen“ füllen.

Für die meisten sind es unbeschwerte Tage anno 1813. Wilhelm Grimm denkt an die vorangegangenen „Befreiungskriege“ zurück von der napoleonischen Herrschaft, als er im November 1813 an seinen Freund Achim von Arnim schreibt:



Am schönsten habe ich es im Sommer auf dem Lande gefunden bei der Familie Haxthausen, wo ich ein paar Tage war; es war eine ordentlich große Freude, an einer großen Tafel vor etwa dreißig Menschen nach Lust und ohne Furcht reden zu dürfen…



Bei dieser Gelegenheit wird der damals 27-Jährige wohl immer mal den Blickkontakt mit Annettes Schwester Jenny gesucht haben. Zwischen den beiden brennt die Luft in diesen Sommertagen – auch wenn beide später anderweitig heiraten werden.

Mit Annette hingegen kann Wilhelm nicht.

„Nach Lust und ohne Furcht reden“, das ist ein Privileg, das er ihr offensichtlich nicht zugestehen mag. Ebenso wie ihre meisten Verwandten empfindet er Annette als zu gelehrt, zu selbstbewusst – und zu frech.



Es ist schade, dass sie etwas Vordringliches und Unangenehmes in ihrem Wesen hat; es war nicht gut mit ihr fertig werden. Sie ist mit 7 Monat auf die Welt gekommen und hat so durchaus etwas Frühreifes in vielen Anlagen.

Wilhelm Grimm



Sie verballhornt seinen Nachnamen, was Grimm gar nicht lustig findet. Am 27. Juli 1813, bereits auf dem Heimweg ins Münsterland, schreibt sie ihrer Stieftante Ludowine nach Bökendorf, wo Wilhelm noch weilt:



Grimm sage, es täte mir herzlich leid, dass er seine Namensveränderung oder Verdrehung so übel genommen hätte, und da es ihm so sehr missfiele, so wollte ich ihn in Zukunft nicht mehr Unwill, sondern Unmut nennen.

Annette von Droste-Hülshoff



Es scheint, als nehme sie die ständige scharfe Beobachtung und Zurechtweisung durch die Onkel und deren Gäste mit Humor. Wie es tatsächlich in ihr aussieht, zeigt viel später ein Brief an ihre Freundin Elise Rüdiger. Noch rund 30 Jahre später erinnert sie sich an die Bökendorfer Sommer:



Ich habe Ihnen ja schon früher erzählt, wie wir sämtlichen Cousinen haxthausischer Branche durch die bittere Not gezwungen wurden, uns um den Beifall der Löwen zu bemühn, die die Onkels von Zeit zu Zeit mitbrachten, um ihr Urteil danach zu regulieren, wo wir dann nachher einen Himmel oder eine Hölle im Hause hatten, nachdem diese uns hoch oder niedrig gestellt.

Annette von Droste-Hülshoff

Mit Gewalt schuldig: Die Intrige

1820

Annette hält sich wieder für längere Zeit im Paderborner Land auf, diesmal insgesamt anderthalb Jahre. In der Kur im nahen Driburg hat sie im Vorjahr versucht, ihre Leib- und Magenschmerzen, chronisches Kopfweh und „Uebeligkeiten“ zu mildern.

Der Verliebte: Heinrich Straube

Als sie frisch aus der Kur auf dem Bökerhof eintrifft, begegnet sie dort Heinrich Straube. Den drei Jahre älteren Göttinger Studenten hatte sie bereits im Sommer 1818 in Bökendorf getroffen, im Frühjahr darauf hat er sie in Hülshoff besucht. Heinrich ist anders als die „Löwen“. Er nimmt Annette ernst, respektiert ihr lyrisches Talent, tauscht mit ihr Gedichte aus. Kein Zweifel: Heinrich ist bis über beide Ohren verknallt. Von Annette kann man sagen, dass sie ihm mindestens sehr zugetan ist.

Was auch immer da ist, es wird misstrauisch beäugt von jenen, die Annette ohnehin auf dem Kieker haben, darunter Stiefonkel August und Stieftante Anna. Reicht es denn nicht, dass dieses junge Frauenzimmer ihre Zeit nicht mit Stickereien und meinetwegen dem Sammeln von Märchen verbringt, sondern mit dem Schreiben eigener Gedichte! Dass sie honorigen Freunden des Hauses wie Wilhelm Grimm nicht den nötigen Respekt entgegenbringt! Muss sie auch noch dem armen Straube den Kopf verdrehen?!

Man will ihr eine Lektion erteilen und schmiedet einen perfiden Plan. Annette soll bloßgestellt und diskreditiert werden. Mitte Juli 1820 wird er ausgeführt, und zwar von August von Arnswaldt, auch er ein Freund der Haxthausens und von Heinrich Straube.

Der Verführer: August von Arnswaldt

Der smarte Spross einer hannoverschen Adelsfamilie glaubt, dass keine Frau widerstehen kann. Im Bökerhof sucht er gezielt Annettes Nähe, flirtet mit ihr, macht zweideutige Bemerkungen, bringt sie völlig aus dem Konzept. Er treibt sie zu widersprüchlichen Äußerungen – nur, um dann triumphierend zu seinem Kumpel Straube zu eilen, diesen vor der treulosen jungen Frau zu warnen.

Es folgte ein wohl theatralischer, gemeinsamer „Absage-Brief“ der Männer an Annette von Droste: Sie habe die Probe nicht bestanden, mit Straubes Gefühlen also nur gespielt, nun würden beide nichts mehr von ihr wissen wollen. Ob Heinrich das wirklich so sieht oder seinerseits von Arnswaldt zu diesem Bruch getrieben wird – man weiß es nicht.

Der Brief der beiden vom 6. August 1820 ist offenbar nicht erhalten, dafür aber ein beigelegter Zettel für August von Haxthausen, der auserkoren ist, seiner Nichte den Absage-Brief zu überreichen (und unbedingt über ihre Reaktion zu berichten). Darauf steht:

Der Mitverschwörer: Stiefonkel August von Haxthausen



Straube ist frei – Keiner von uns wird wohl jemals nach Hülshoff gehen – Dieser Brief bricht alles ab …

August von Arnswaldt



Annette erklärt sich und die Situation einige Monate später in einem Brief an ihre Stieftante Anna von Haxthausen – sie weiß nicht, dass auch Anna wie ihr Bruder August in die Intrige involviert ist. Über Arnswaldts Vorgehen schreibt Annette von Droste ihrer Tante:



Die eingeweihte Stieftante: Anna von Haxthausen

… ich sollte mit Gewalt recht schuldig werden, Str(aube) sollte gerettet werden, und ich zu Grunde. Oh wie muss der mich hassen!

Annette von Droste-Hülshoff



August von Arnswaldt und seine Komplizin Anna von Haxthausen heiraten zehn Jahre später. Heinrich Straube tritt in den Staatsdienst ein, ist als Anwalt in Kassel tätig und ehelicht 1824 Maria Regenbogen.





Die Dichterin ist nach der Intrige von 1820 über Jahrzehnte hinweg nicht zu ihrer ostwestfälischen Verwandtschaft zurückgekehrt. Erst 1837 setzt sie wieder einen Fuß ins Paderborner Land – im Bökerhof aber will sie auch 17 Jahre nach den Vorkommnissen nicht mehr wohnen. Bei ihren künftigen Aufenthalten nimmt sie nun stets Quartier beim ihr freundschaftlich verbundenen, unverheirateten Onkel Fritz im benachbarten Gut Abbenburg.

Zufluchtsort: Gut Abbenburg

1839

Die Dichterin genießt die Ruhe in Abbenburg, wo Onkel Fritz sich fürsorglich um ihre Gesundheit kümmert und sie immer wieder mit dem Hämmerchen raus in die Natur schickt, damit sie Steine klopfen und sich Bewegung verschaffen kann. Nur zu gerne kommt sie dieser Aufforderung nach und vervollständigt bei dieser Gelegenheit ihre umfangreiche Mineralien- und Fossiliensammlung.



… eine so tiefe Ruhe! Denn die Ökonomiegebäude liegen weitab und mein Onkel Fritz führt nur eine kleine Junggesellenwirtschaft. Das Haus ist angenehm, angefüllt mit altertümlichen Gegenständen, wunderschön geschnitzten Schränken und Möbeln, alten Kunstuhren, Familienbildern und so still, dass man den ganzen Tag das Heimchen zirpen hört.



Ungefähr 200 Schritte vom Hause (nach der stillen Seite) ein sehr hoher und breiter Laubengang, in der Mitte abgebrochen, wo eine herrliche alte Linde steht mit steinernen Bänken und Tischen drum her. Dies ist der Ort, wo ich meinen Onkel zuweilen betrüge, während er mich durch Feld und Wald rennen glaubt ..

Annette von Droste-Hülshoff

















An einem steinernen Tisch unter den Bäumen am Rande einer Wiese vollendet sie eines ihrer wichtigsten Werke, das „Geistliche Jahr“. Heute ist sein Sockel ins Erdreich abgesunken und von Efeu umrankt, die Platte eine schiefe, von Grünspan überzogene Ebene.

Dennoch hat er die Zeiten und Generationen überdauert.

So wie die Dichterin, die einst an ihm saß.



1845

Drei Jahre vor ihrem Tod hält sich Annette von Droste-Hülshoff zum letzten Mal im „Paderbornischen“ auf. Zu diesem Zeitpunkt ist sie eine publizierte Schriftstellerin, die zwei Gedichtbände veröffentlicht hat. Das Verhältnis zu Onkel August hat sich im Laufe der Jahre gebessert – am Ende zollt er seiner kecken Nichte und deren Leistungen sogar Respekt.





Mit Heinrich Straube hat die Dichterin nie wieder Kontakt. Als er 1847 stirbt, findet man in seinem Nachlass eine Locke. Sie soll von Annette von Droste stammen.





Annette von Droste-Hülshoff, Daguerreotypie von Friedrich Hundt, ca. 1845











Romantiker und Raubtiere

Annette von Droste-Hülshoff im Paderborner Land

Eine Webstory Monika Gemmer

Fotos und Abbildungen: Bildarchiv Foto Marburg (Anna von Haxthausen), ULB Münster (Daguerreotypie Annette von Droste-Hülshoff, CC Public domain Mark 1.0), LWL-DLBW (Therese von Haxthausen), Wikimedia Commons (Ludwig Emil Grimm, Wilhelm Grimm, Annette von Droste-Hülshoff, Heinrich Straube, August von Haxthausen, alle CC Public domain Mark 1.0).

Alle weiteren Fotos: Monika Gemmer

Audios: Hörspielbox, musopen.org (Frédéric Chopin, Préludes, Op. 28, CC Public domain Mark 1.0; Claude Debussy, Arabesque No. 1, CC BY-NC-ND 3.0)



Danke an Freiherrn von Haxthausen, der mir das Fotografieren auf dem Privatgrundstück von Gut Abbenburg freundlich gestattete.



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